8. Algebra als praktische Mathematik

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  • Allgemeines
    o Die rhetorische Algebra wurde in späteren Werken, z.B. in der Ars Magna von Cardano (Nürnberg, 1545) oder in der Algebra von Christoph Clavius (Rom, 1608) weiter systematisiert und ausgebaut
    o Dennoch blieb diese Form der Algebra eine Reihe von Rezepten und Regeln, um konkrete Probleme zu lösen
    o Diese Probleme entstammten den Bedürfnissen der Kaufleute in den Städten wie z.B. Venedig, Genua, Augsburg, Nürnberg und den Hansestädten, in denen intensiv Handel betrieben wurde
    o Praktische Arithmetik: Berechnungen von konkreten Dingen
  • Die Rechenmeister
    o Rechenschulen und Rechenmeister, wie z.B. Adam Ries, brachten ihren Schülern die neue Mathematik bei, d.h. wie man mit den indo-arabischen Ziffern rechnet
    o Es entsteht eine neue Schicht von Kundigen der arithmetischen Grundkenntnisse mit der Kompetenz praktische mathematische Probleme zu lösen
    o Adam Ries (1492-1559) z.B. schrieb auf Deutsch, nicht lateinisch
  • Adam Ries
    o lebte seit 1522 in Annaberg, eine vom Silbererzbergbau geprägte Stadt in Sachsen
    o unterhielt eine eigene Rechenschule
    o Mit seiner Frau Anna hatte er mind. 8 Kinder. Drei der fünf Söhne waren ebenfalls zeitweilig in Annaberg als Rechenmeister tätig. Die drei Töchter heirateten in Annaberg
    o Sein Lehrbuch (Grundrechenarten mit indo-arabischen Ziffern) von 1522 wurde bis ins 17. Jahrhundert mindestens 120 Mal neuaufgelegt! 1550 verfasste er eine Algebra unter dem Namen “Coß” (steht für Algebra, vom Wort für Unbekannte)
  • Trigonometrische Tafeln
    o These: Die Durchsetzung des Buchdrucks ermöglichte einen Fortschritt in der praktischen Mathematik, der darin bestand, dass konkrete numerische Rechnungen zunächst anwendungsfrei durchgeführt und in Form von - gedruckten - Tafeln und Tabellen fixiert und konserviert wurden, um dann in weiteren konkreten, praktischen Rechnungen eingesetzt werden zu können
    o Tabellen-/Tafelwerke gehörten zu viel gedruckten Werken
    o Sozusagen Rechnen auf Vorrat
    o Wie Sehnentafeln bei Ptolemäus
  • Prosthaphaeresis (Folie 481 – 516)
    Vorläufertechnik der Algorithmen
    • Name ist Kunstwort aus den Griechischen: prosthesis = Addition, aphaeresis = Subtraktion
    • War einige Jahrzehnte vor der Einführung der Logarithmen eine Methode zur schnellen approximativen Berechnung von langen Multiplikationen und Divisionen
    • Ursprüngliche Idee der Logarithmen war, komplizierte Rechnungen auf einfachere zurückzuführen (siehe Logarithmusgesetze, Produkt zu Summe, Division zu Differenz, Potenz zu Multiplikation)
    • Ergab sich aus dem Kontext der sphärischen Geometrie
  • • Prosthaphaeresis Idee: Benutze eines der folgenden trigonometrischen Produkte, um eine Multiplikation in eine Addition umzuwandeln
  • Vorüberlegung: Geometrische Herleitung des trigonometrischen Additionstheorems
    o Es gibt noch keine Formelsprache
    o Trigonometrischen Größen sind dimensionsbehaftete Längen: keine trigonometrischen Funktionen, sondern Strecken im Kreis, deren Größe vom Radius abhängt
    o Radius im Kreis nicht auf 1 normiert, sondern so groß wie möglich (z.B. 10 Mio.), damit die relativen Längen so genau wie möglich ganzzahlig berechnet werden können (Vorgehen wie bei Ptolemäus, aber immer genauere numerische Interpolation)
    o Sinus ist definiert für Bögen (bzw. Winkel) bis 90°
  • o Es gibt noch keinen Cosinus als gleichberechtigte trigonometrische Funktion/Größe, auch wenn die Abkürzung cos vom Komplement des Sinus kommt
  • Geometrische Herleitung der ersten Produktformel, also des ersten Falls der Prosthaphaeresis so ähnlich, aber komplizierter (müssen wir nicht können)
  • „Die“ Prosthaphäreseformel
  • Moderne „einfache“ Herleitung mit Euler-Formel
  • Der prosthaphaeretische Algorithmus
    o Skaliere die zu multiplizierenden Zahlen mithilfe von Zehnerpotenzen, sodass in einer Tafel der Winkel abgelesen werden kann (ggf. mit Interpolation für höhere Genauigkeit)
    o Addiere und subtrahiere die beiden Winkel
    o Schlage Sinus oder Cosinus für die Winkelsumme und Differenz nach
    o Addiere (oder subtrahiere) die erhaltenen Werte
    o Dividiere durch 2
    o Skaliere zurück auf Ausgangszahlen
  • Beispiel 587*683
  • Nachteil des prosthaphaeretischen Verfahrens: nicht leicht auf andere Operationen als Multiplikation und Division zu verallgemeinern
  • effektive Rechenverfahren wichtig
    o Bürgi misst den Winkelabstand des Mars zu zwei Fixsternen mithilfe eines Sextanten
    o Abstand zwischen den beiden Fixsternen und ekliptische Koordinaten (Länge und Breite) der Fixsterne sind bekannt
    o Gesucht sind die ekliptischen Koordinaten des Mars
    o Berechnung mittels sphärischer Geometrie
    o Er interpretiert Seiten des Dreiecks als Bögen der Winkel in 5 Schritten
    o bspw. in Schritt 1 nutzt er eine Formel, die zwei Multiplikationen und eine Division erfordern würde
    o die Multiplikationen ersetzt er prosthaphaeretisch durch Summen und Differenzen
  • o Bürgi verleicht am Ende sein Ergebnis mit den Vorhersagen von Kopernicus und Ptolemäus
  • Logarithmen
    • „Erfindung“ der Logarithmen ist ein wesentlicher Entwicklungsschritt, vor allem in der praktischen Mathematik, da sie eine große Arbeitsersparnis für diejenigen liefern, die lange Rechnungen ausführen müssen
    • Wichtigkeit wird sogar mit der Einführung der arabischen Ziffern verglichen
    • Entstehung von Logarithmen als Parallelentwicklung
  • o Die “Erfindung” der Logarithmen wird in der Literatur zwei Mathematikern zugeschrieben, welchen die Entdeckung unabhängig gelang: John Napier (1550-1617) und Jost Bürgi (1552-1632)
    o unterschiedliche äußere Biographien, unterschiedliche intellektuelle Hintergründe, unterschiedliche Zielsetzungen, unterschiedliche Ergebnisse
    o genaueres Hinsehen zeigt, dass noch mehr Autoren beteiligt waren: keine einzelne isolierte Erfindung, sondern Entstehung einer Struktur, für die mehrere Elemente zusammenkommen mussten
  • o Kern: Tabellen von Zahlen, die die ganzzahlige Exponentiation interpolierten, indem sie einen Zusammenhang herstellten zwischen arithmetischen und geometrischen Progressionen und damit eine Reduzierung der Komplexität arithmetischer Operationen auf Kosten nur approximativer Lösungen erlaubten
    o Logarithmus: Kunstwort aus logos (Verständnis, Lehre, Verhältnis) und arithmos (Zahl)
  • Vorverständigung zu Logarithmen
    o Heutiges Verständnis von Logarithmen vor alle als Umkehrfunktion der Potenzfunktion oder in der Analysis über das Integral der Hyperbel
    o Bzw. als Funktion mit bestimmten Eigenschaften wie f(Basis) = 1
  • Umkehrfunktion zur Potenzfunktion
  • Funktionalgleichung und Rechenregeln
    o Logarithmus ist weitgehend eindeutig durch die Funktionalgleichung bestimmt
    o Multiplikation bzw. Division wird durch Addition bzw. Subtraktion ersetzt
    o Potenz bzw. Wurzel wird durch Multiplikation bzw. Division ersetzt
  • log Regeln
  • Logarithmen als Gruppenisomorphismus
    o Idee: stelle Isomorphie zwischen der additiven und der multiplikativen Gruppe her über die Beziehung log(xy) = log(x) + log(y)
    o Dann können Multiplikationen in der einen Gruppe durch Additionen in der anderen Gruppe ersetzt werden
    o Gruppenisomorphismus erfordert aber u.a. die Identifikation der neutralen Elemente: log(1) = 0
    o Beispiel zur Basis 2
  • Arithmetische/Geometrische Progression
  • Jost Bürgi (1552 – 1632)
    o Biografie
    ▪ ursprünglich aus der Schweiz
    ▪ Ausbildung vermutlich als Uhrmacher, vermutlich u.a. in Straßburg
    ▪ 1579-1604 Hofuhrmacher beim Landgraf Wilhelm IV. von Kassel an der dortigen Sternwarte
    ▪ 1604-1630 Anstellung beim Kaiser Rudolf II in Prag, dort Zusammenarbeit u.a. mit Kepler
    ▪ kehrt 1631 nach Kassel zurück, wo er kurze Zeit später stirbt
  • Bürgis Werk
    Werk
    ▪ Publiziert eigene (Anti-)Logarithmentafel (die er aber nicht so nennt)
    ▪ Aber erst 1620: zu spät, da gab es schon bessere von Napier
    ▪ Nur noch zwei Exemplare erhalten (Danzig und München)
    ▪ Logarithmen (also Funktionswerte) sind rot gedruckt, Argumente schwarz
    ▪ In zum Teil erst später gefundenen und publizierten Schriften finden sich auch ausführliche Anleitungen zum Rechnen mit den „roten Zahlen“
  • Bürgis rote Zahlen
  • John Napier (1550 – 1617)
    o Biografie
    ▪ Schottischer Adliger, privat unterrichtet
    ▪ vermutlich Auslandsaufenthalt und ausländische Studien, ab 1571 zurück in Schottland
    ▪ 1614: Mirifici logrithmorum canonis descriptio (englische Übersetzung durch E. Wright in 1616): Beschreibung wie man mit Logarithmen arbeitet/rechnet
    ▪ 1619: Mirifici logarithmorum canonis constructio (geschrieben vor der descriptio, aber erst posthum durch den Sohn publiziert): Beschreibung wie er auf die Logarithmen kam
  • Napiers Schriften
    o Zwei Schriften vorgestellt
    ▪ Eine, in der er seine Rechenstäbchen, eine mechanische Rechenhilfe vorstellt
    ▪ Eine, in der er den Gebrauch der von ihm erfundenen Logarithmen erklärt
    o Logarithmen als Verhältniszahlen
    ▪ Idee: Logarithmus wird über stetige Bewegungen definiert, nicht mehr diskret
  • Interpretation der Napierdefinition mit moderner Analysis
  • ▪ Napierdefinition => Blöd damit zu rechnen, hält sich nicht lange
    o Verbesserungsvorschläge von Napier
    ▪ Noch mehr Ziffern berechnen
    ▪ Logarithmus von 1 soll 0 sein
    ▪ Faktor 10 im Argument soll plus 1 beim Logarithmus sein
    • Henry Briggs (1561 – 1630)
    - kontaktiert Napier und beschließt neue Logarithmentafeln zu erstellen, und zwar zur Basis 10
  • 87,6*8,47= log(727)
  • o Worauf man beim Rechnen mit Logarithmustabellen achten muss, wenn man es richtig machen will
    ▪ Über Zehnerpotenzen Größenordnungen abschätzen
    ▪ Tabellen sind nur so genau wie sie es eben sind
    Lineare Interpolation, wenn man so genau wie möglich sein will
  • • Rechenschieber
    o bald nach Einführung von Logarithmen in Form von Tafeln entstand auch die Idee logarithmische Skalen auf linearen Stäben oder kreisförmigen Scheiben zu verwenden, als analoge Multiplikations- und Divisionsinstrumente
    o Rechenschieber waren dann lange Zeit ein Standardrecheninstrument für Ingenieure und Techniker
  • ▪ Rechenschieber liefern typischerweise das Ergebnis auf drei signifikante Stellen genau, für genauere Rechnungen musste auf Tafeln zurückgegriffen werden
    ▪ Rechenschieber liefern nur die signifikanten Stellen, die Größenordnung des Ergebnisses musste unabhängig ermittelt werden z.B. durch Überschlagsrechnungen und Nullen und Dezimalpunkte entsprechend nachträglich eingefügt werden
    ▪ Konkrete Rechnungen mussten ggf. für die numerische Auswertung auf dem Rechenschieber oder mittels Tafeln vorbereitet, d.h. z.B. entsprechend vorher umgeformt werden
  • Multiplikation und Division von Zahlen über logarithmische Skalen (C & D):
    ▪ Multiplikation: Strecken addieren; x auf D-Skala, y auf C-Skala, 1 der C-Skala auf x der D-Skala einstellen
    ▪ Division: Strecken subtrahieren; x auf D-Skala, y auf C-Skala, Ende von y auf Ende von x setzen, an 1 der C-Skala ablesen
    ▪ Bei längeren Rechnungen vorher so sortieren, dass ähnlich große Zahlen miteinander verrechnet werden, sodass man nicht so viel schieben muss
  • Wissenschaft: wenn man es sehr genau brauchte, ging man zurück zu Logarithmentafeln
    o Es gab zur Berechnung der Logarithmentafeln die speziell angefertigte Addier- und Subtraktionsmaschine von Thompson
    o Außerdem lineare Interpolation
    o Noch genauere Interpolation: polynomiale Approximation der Logarithmusfunktion auf Basis der Tabellen => so machen das in der Regel auch die Taschenrechner
  • Verdrängung der Rechenschieber durch Taschenrechner
    o Mitte der 70er Jahre wurden Rechenschieber (und Logarithmentafeln) innerhalb weniger Jahre vollständig durch Taschenrechner verdrängt
    o Wichtige Modelle waren von Hewlett Packard HP 35 (1974) oder Texas Instruments TI 30 (1976), die trigonometrische und Exponentialfunktionen hatten, Taschenformat hatten und wirtschaftlich konkurrenzfähig wurden
    o Mit der Einführung des Taschenrechners ging auch die Kenntnis der Verwendung von Logarithmen und zugehörige Sekundärkompetenzen (Überschlagsrechnungen) stark zurück