Vorlesung 9 - Medienaneignung

Cards (17)

  • Quantitativ-sozialwissenschaftliche Rezeptions- und Wirkungsforschung
    • Theoretische Quellen und Verwandtschaften:
    • Sozialpsychologie, Soziologie der Kleingruppe, Wahlforschung
    • Kernfrage:
    • Wie werden Medieninhalte verarbeitet und wie wirken sie?
    • Typische untersuchte Medieninhalte:
    • Politische/journalistische Inhalte, Persuasive Botschaften
  • Qualitative und kritische Aneignungsforschung
    • Theoretische Quellen und Verwandtschaften:
    • (Post-)Marxismus, feministische Theorie, Literaturwissenschaft, interpretative Soziologie...
    • Kernfrage:
    • Wie werden Medien im sozialen Kontext genutzt und wie werden ihre Inhalte gedeutet / angeeignet?
    • Typische untersuchte Medieninhalte
    • Populäre / Unterhaltungsangebote, Boulevardjournalistische Inhalte, von benachteiligten Gruppen genutzte Inhalte
  • Cultural Studies
    • Hochkultur versus Populärkultur
    • Medienpädagogik und Erwachsenenbildung
    • Zerfallene Arbeiterklasse, Nachwirkung des Kolonialismus, Geschlechterungleichheit
    • Interesse an Vorherrschaft von Ideologien
    • Interessen am Vergnügen an der Medienrezeption
  • Encoding / decoding
    Vorannahmen
    • Deutung von Medieninhalten weder durch diese determiniert, noch beliebig
    • Herrschende Ideologien nicht einfach Ideologien der Herrschenden oder aus Gesellschaftsstruktur ableitbar
    • Bestimmte Ideologien haben in Deutungskämpfe Hegemonie erlangt
    • Menschen nutzen Medieninhalte mit vermeintlich nicht zu ihrer Lage passenden Ideologien
  • Encoding / decoding
    • Encoding: Bevorzugte und herrschende Lesart wird bei der Produktion in den Text eingeschrieben
    • Decoding: Text wird bei der Rezeption auf bevorzugte oder andere Weise gedeutet
  • Encoding / Decoding
    • Bevorzugte Lesart (preferred reading): im Text niedergelegte dominante Ideologien werden aus diesem wieder herausgelesen und akzeptiert
    • Ausgehandelte Lesart (negotiated reading): die im Text niedergelegten dominanten Ideologien werden zwar prinzipiell akzeptiert, aber vermittelnd auf die eigene Situation und eigene Sinnvorräte bezogen, z.B. indem Ausnahmen eingeräumt oder Widersprüche hingenommen werden
    • Oppositionelle Lesart (oppositional reading): die bevorzugte Lesart wird direkt abgelehnt und eine dazu konträre, kritische etabliert
  • Encoding / Decoding
    Kritik und Weiterentwicklung
    • Kritische Lesarten entwickeln nicht unbedingt eine ideologische Gegenposition; Rezipient:innen können einen Text auch einfach unverständlich oder nichtssagend finden
    • Texte präsentieren häufiger auch (in Ansätzen) kritische Perspektiven – Kritik eines Textes ist nicht notwendigerweise Kritik herrschender Ideologien
  • Watching Dallas
    • „Ideologie der Massenkultur“ wertet Genres wie Soaps ab
    • Fiktion wird weder als völlig realistisch angesehen, noch als rein wirklichkeitsfremd, sondern enthält aus Sicht von Teilen des Publikums prinzipiell zutreffende Darstellungen der (sozialen) Welt, der Psyche und tragischer Gefühle (emotionaler, nicht kognitiver Realismus)
    • Vergnügen an patriarchalischen Erzählungen als Ausleben von Leiden an der eigenen Position und/oder stellvertretende Freude und Selbstfürsorge und/oder Utopie
    • Teils wird das Genre aber auch mit kritischer oder ironischer Haltung gesehen
  • Was bedeutet Mediennutzung eigentlich?
    • „Das“ Publikum als kommerziell nützliches Konstrukt für die Werbevermarktung
    • Mediennutzung und -aneignung demgegenüber sehr vielfältig: konzentriertes Hören/Zusehen/Lesen, Gesprächsanlass, Hintergrundgeräusch
    • Nutzung oft aus sozialen, nicht inhaltlichen Gründen (Gespräche, Gemeinsamkeit, körperliche Nähe…), beim linearen Fernsehen mit oft klaren Machtverhältnissen, und abhängig von Gelegenheiten
    • Individualistische Betrachtung von Mediennutzung entlang von persönlichen Einstellungen, Motiven und Verarbeitungsweisen deshalb problematisch
  • Themen der Medienaneignungsforschung
    • Mediennutzung und Geschlecht, Migration, Kindheit/Jugend stigmatisierte Genres wie Soap, Talkshow, Reality TV, Boulevard-/Lifestylejournalismus etc.
    • Grenzbereiche/Überschneidungen von Information und Unterhaltung, Öffentlichem/Politischem und Privatem; Bedeutung von Medien für die alltägliche Lebensführung
    • Identität, Vergemeinschaftung, Fantum, Körperbilder, Affekt
    • Aneignung neuer Medien
    • Methodisch oft qualitative Interviews, seltener Beobachtungen („ethnografische Medienforschung“), oft ergänzt durch qualitative Analyse von Medienangeboten
  • Information vs. Unterhaltung?
    • Unterhaltung oft als Gegensatz zur Information, als weniger wertvoll gesehen, von der Forschung im Vergleich vernachlässigt
    • Unterhaltungsorientierung von Frauen als Artefakt der Erhebungsweise
    • „Unterhaltungs“angebote dienen auch der Orientierung in der Welt
    • Nachrichten nutzen oft erzählende Formen, die aus fiktionalen Angeboten bekannt sind, und Unterhaltungserleben bei der Rezeption kann Informationsaufnahme erleichtern
    • Einteilung in Information und Unterhaltung reproduziert geschlechts- und schichtspezifische Machtverteilungen
  • Medien und Alltag
    • Mediennutzung ist in vielfältige Alltagshandlungen eingebettet und Medien bilden zugleich neben dem Außergewöhnlichen auch das Alltägliche ab
    • Perspektive auf Medien ist also nicht auf Angebote, Institutionen oder die individuelle Psyche zentriert, sondern auf den (sozialen, räumlichen, zeitlichen) Kontext und eine Perspektive „von unten“
    • Medienangebote strukturieren den Alltag, geben Sinn und Orientierung, stabilisieren Verhältnisse, haben aber auch Veränderungspotential
  • Aneignung von Medientechnologie
    Von der Domestizierung des Internets zur tiefgehenden
    Mediatisierung aller Lebensbereiche
    • Neue Medien werden „domestiziert“, d.h. alltäglicher Teil des Zuhauses, alltäglicher Handlungen, Beziehungen – räumlich bemerkbar
    • Mediatisierung als Durchdringung und Formung von Lebensbereichen durch Medientechnologien
  • Aneignung von Medientechnologie
    Von der Domestizierung des Internets zur tiefgehenden
    Mediatisierung aller Lebensbereiche
    • Datafizierung und „deep mediatization“ machen (algorithmische) Medientechnologien noch konstitutiver für Formen, Inhalte und Bedeutungen von Kommunikation
    • Digitale „Doubles“ können mit unterschiedlicher Handlungsfähigkeit gemanagt oder vermieden, euphorisch oder pragmatisch genutzt werden
  • Medien und Geschlecht
    • Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, Zuschreibung von Sphären, Medienpräferenzen und Nutzungspraktiken:
    • Heim für Frauen oft stärker Ort der Freizeit und der Arbeit
    • Assoziation von Weiblichkeit mit Privatheit, „trivialen“ Genres
    • Mediennutzung für Frauen oft als gelegenheitsbezogene Auszeit oder Nebenbeitätigkeit im fragmentierten Alltag mit schlechtem Gewissen („guilty pleasure“)
  • Medien und Geschlecht
    • Aber Geschlecht nicht als starre Struktur, sondern Aushandlung und „doing gender“:
    • Abgrenzung der eigenen von fremden Bedürfnissen
    • Orientierung in rollenkonformen und -fremden praktischen Belangen und bezüglich der eigenen Identität, aber auch Erleben fremder Perspektiven und Lebensformen
    • Selbstbewusstes Erleben der eigenen Person in traditionellen und/oder modernen Rollen
    • Imagination alternativen Lebens- und Beziehungsformen bei der Medienrezeption
  • Medien und Gemeinschaft
    • In der Medienaneignung werden Zugehörigkeiten (Geschlecht, Ethnie, Fansein) und Ab-/Ausgrenzungen erlebt und verhandelt
    • Mediennutzung als Ritual
    • Vergemeinschaft verläuft dabei nicht nur kognitiv, sondern auch affektiv (emotional, körperlich): gemeinsames Mitfiebern, Trauern, Lästern, Sich-Schämen…