4. Antikes Griechenland (Folie 137 - 384)

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  • Allgemein
    • Mathematik und Philosophie im Medium der Sprache
    • Die klassische Periode des antiken Griechenlands (500-300 v. Chr.) bringt paradigmatische Kulturleistungen hervor
    o klassische Architektur und Skulptur (Phidias, Praxiteles)
    o Drama (Aischylos, Sophokles, Euripides)
    o Historie (Herodot, Thukydides)
    o Rhetorik (Demosthenes)
    o Philosophie (Sokrates, Platon, Aristoteles)
    o Mathematik (Euklid, Archimedes, Apollonius)
  • Was ist neu?
    A) Griechenland
    B) mindestens ebenbürtig
    C) systematisch geordneten
    D) beweisenden
    E) keine Beweise
  • „Philosophische“ vs. „Praktische“ Mathematik
    o wissenschaftliche Mathematik entwickelte sich im antiken Griechenland unabhängig und in Abgrenzung von der praktischen Mathematik
    o Über die praktische Mathematik der Griechen ist relativ wenig überliefert
    o “Zwei Mathematiken”: eine “normale oder praktische” und eine “philosophische” Mathematik
    o Kenntnis über die voreuklidische “philosophische” Mathematik fast ausschliesslich aus philosophischen Texten (Fragmente der Vorsokratiker, Platon, Aristoteles)
    o Polemische Bemerkungen in den klassischen Texten gegen die Mathematik der Praktiker
  • Klassische Paradoxie der Erkenntnissuche
    oDer Mensch kann nicht suchen, was er nicht weiß, weil er es ja nicht weiß
    oAber er kann auch nicht suchen, was er weiß, weil er es ja schon weiß und nicht zu suchen braucht
  • Plato
    o Schreibt Dialoge, einer der Dialogpartner ist meist Sokrates
    o Lernen bedeutet wiedererinnern an Wissen, das unsere unsterbliche Seele schon über die ‚Welt der Ideen‘ hat
    o Beispiel: Menon-Dialog, Verdoppelung des Quadrats
  • • Klassische Wissensdefinition von Platon
    o Wissen ist gerechtfertigte wahre Meinung
    o Notwendige und hinreichende Bedingungen bei Platon
    o S weiß, dass p genau dann, wenn
    p ist wahr
    S meint, dass p wahr ist
    S hat Gründe dafür zu meinen, dass p gilt
    o Für die Mathematik relevant: Woher bekommen wir die Gewissheit, dass etwas wahr ist? => Beweise
  • • Direkter Beweis: Aristoteles, 1. Analytik
    o Aristoteles (384-322) lebt etwas früher als Euklid
    o In der Ersten Analytik entwickelt er die Lehre von den Schlüssen (Syllogistik)
    o Syllogistik war bis ins 19. Jahrhundert der Kern der Aussagenlogik
  • Beispiel: Modus Barbara
    ▪ Wenn die Prämissen wahr sind, dann auch die Konklusion
    ▪ Drei bejahende, allgemeingültige Urteile
    ▪ Logische Schlüsse erhalten Wahrheitsgehalt
    • Alle Menschen sind sterblich
    Alle Griechen sind Menschen
    also sind alle Griechen sterblich
  • Indirekter Beweis als Beweismethode
    o Bei Platon noch die einzige Methode, sicheres Wissen zu beweisen (noch keine Syllogistik)
    o Setzt sprachliche Repräsentation des verhandelten Gegenstandes voraus
    o Beweisverfahren entstammt nicht der Mathematik, sondern der philosophischen Dialektik (Argumentationskunst)
    o Charakteristisch für das Verfahren des indirekten Beweises ist, dass es prinzipiell nicht auf Anschaulichkeit rekurriert; es kennt keine sinnliche Evidenz
    o Beispiele: Inkommensurabilität von Diagonale und Seite im Quadrat, Euklids Theorem
  • Inkommensurabilität von Diagonale
  • Euklid - Allgemein
    A) zweithäufigsten gedruckten
    B) axiomatisch-deduktiver
    C) akademischen Ausbildung
  • Eine terminologische Unterscheidung: Euklids vs. Euklidische Geometrie
    o Euklids Geometrie bezieht sich auf das Werk des historischen Autors Euklid, Euklidische Geometrie bezieht sich auf das, was jeweils zu einer Zeit unter der Geometrie Euklids verstanden wurde
    o Ähnlich: Newtons und Newtonsche Mechanik, Hilberts und Hilbertsche Axiomatik
  • Moderne „Euklidische Geometrie“
    o Im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet man als euklidische Geometrie, diejenigen Axiomensysteme der Geometrie, in welcher das Parallelenaxiom gilt
    o Gegensatz: nicht-euklidische Geometrie, gleichberechtigt zur euklidischen, aber noch relativ neu (19. Jhdt.)
  • Was wissen wir vom historischen Euklid?
    o Nicht viel, keine Originale, Abschriften erst aus dem Mittelalter
    o Bildnisse von ihm sagen mehr über die Künstler der Zeit aus als Euklid selbst
    o Passage aus dem Euklid-Kommentar von Proklos (ca. 410-485) liefert: Euklid wirkte um 300 v. Chr.
  • • Die älteste erhaltene Handschrift, in der uns die Elemente überliefert sind, ist das Manuskript d’Orville aus dem Jahr 888 n. Chr., und ist somit zeitlich näher an uns als am historischen Euklid
    • es existieren verschiedene Manuskripte der Elemente, die auf verschieden alten Handschriften basieren, z. B. Manuskripte B und P
    • die „kanonische“ Euklidausgabe
    o herausgegeben von Heiberg in Leipzig, 1883
    o griechisch-lateinisch
    o basiert vor allem auf Manuskript P
    • deutsche Übersetzung von Clemens Thaer (1933-1937)
  • Definition Axiom Euklid z.B.
  • • Rolle der Definitionen und Axiome in den Elementen
    o Deduktiv: von Definitionen und Axiomen/Postulaten ausgehend wird alles andere gefolgert
    o Szabo argumentiert, dass der Ursprung der “Axiomatik” bei Euklid nicht innermathematisch ist, sondern aus der Philosophie herrührt:
    ▪ dass die Definitionen keine Definitionen im modernen Sinne waren, sondern “Hypothesen”
    ▪ dass es keinen prinzipiellen Unterschied gab zwischen Postulaten und Axiomen
  • • Es existieren Übersichten/Tabellen, in denen die Konstruktionen in den Elementen und die Aussagen, auf die sie sich beziehen, aufgelistet sind
    • Probleme der inneren Konsistenz der Elemente: Welche Möglichkeiten der Rekonstruktion hat man?
  • o Textkritik: Analyse sprachlicher Besonderheiten (z.B. die Verwendung von bestimmten Fachtermini wie “Parallelogramm” oder stereotype Floskeln, wann und wo treten diese auf, und wo treten sie gegebenenfalls noch auf im überlieferten Textkorpus der griechischen Antike
    o Innermathematische und logische Rekonstruktion. Z.B. wird das vierte Axiom nirgends in den Elementen explizit verwendet (“zwei rechte Winkel sind einander gleich”)
    o Bemerkungen und Andeutungen über das mathematische Wissen der Griechen in anderen Texten und Textfragmenten
  • Inhalte der 13 Bücher der Elemente
  • • Wie genau das Original der Elemente aussah, weiß man nicht (z.B. ob Skizzen vorhanden waren)
    • Das erste Theorem/Aufgabe der Elemente
    o Über einer gegebenen Strecke ein gleichseitiges Dreieck errichten
    o Vorhandensein des Schnittpunkts der beiden Kreise wird nicht formal bewiesen, sondern die Anschaulichkeit spielt in den Beweis mit rein
  • • Formale Beweisstruktur
    o Kommentar der Elemente durch Proklus zeigt das Schema der Beweisstruktur
    ▪ Protasis (der allgemeine Satz)
    ▪ Ekthesis (das speziell Gegebene)
    ▪ Diorismos (das Ziel bzw. Einschränkung)
    ▪ Kataskeue (Konstruktion)
    ▪ Apodeixis (Beweis)
    ▪ Symperasma (Beschluss)
  • Am Beispiel der Umkehrung des Satzes des Pythagoras (letzter Satz in Buch 1)
    o Beim indirekten Beweis
    ▪ Beispiel: Dreiecke mit zwei gleichen Winkeln sind gleichschenklig
    ▪ Gleiche Struktur, aber durch den indirekten Beweis ist der Teil mit der Struktur etwas anders, weil der Sachverhalt nicht wahr ist und deshalb nicht wirklich gezeichnet werden kann
  • • Allgemeine Quadratur
    o Das zweite Buch endet mit der Aufgabe der allgemeinen Quadratur: „Ein einer gegebenen geradlinigen Figur gleiches Quadrat zu errichten“
    o Vorher bereits einige vorbereitende Aussagen gezeigt, über Dreiecke und Parallelogramme
    o Beispiel: Beim Rechteck über den Höhensatz
  • • Problem der „geometrischen Algebra“
    o Mischung von geometrischen Konstruktionen und Algebra
    o Behauptung durch manche Historiker: in den Elementen geht es eigentlich um Algebra, die Geometrie ist nur Werkzeug/Veranschaulichung
    o ABER: im Original gibt es keine algebraische Notation
    o Otto Neugebauer über die griechische Mathematik: Was die Mathematikgeschichte angeht, haben die Griechen wegen der Irrationalität einen Umweg gemacht
  • • Pentagramm
    o Goldener Schnitt bedeutet stetige Teilung
    o die Diagonalen des Pentagramms schneiden sich gegenseitig im Verhältnis des
    goldenen Schnitts
    o Zusammenhang zwischen goldenem Schnitt und dem Pentagramm auch in den Elementen
  • Aufgabe: Eine gegebene Strecke so zu teilen, dass das Rechteck aus der ganzen Strecke und dem einen Abschnitt dem Quadrat über dem anderen Abschnitt gleich ist.
  • • Beim Vergleich des griechischen und lateinischen Textes an dieser Stelle sieht man beispielhaft, dass das Original keine Algebraisierung kennt, die Zeichnungen wurden vielleicht auch in der Übersetzung hinzugefügt
  • Sämtliche Konstruktionen in Euklids Elementen kann man allein mit den Hilfsmitteln Zirkel und Lineal ausführen
    o EE, Buch 4: regelmäßige Vielecke
    o EE, Buch 13: platonische Körper
    o Drei klassische Konstruktionsprobleme der Antike, die nicht mit Zirkel und Lineal lösbar sind
    Quadratur des Kreises (Unmöglichkeit bewiesen durch Lindemann 1880er, Transzendenz von Pi
    Dreiteilung des Winkels (möglich zum Beispiel mithilfe der archimedischen Spirale)
    Verdoppelung des Würfels (möglich mit Mesolabium)
  • Reguläre Vielecke
    o Euklids Elementen wird gezeigt, dass reguläre N-Ecke konstruiert werden können für N = 3, 4, 5, 6, 8, 10, 15
    o Ein 9-Eck kommt nicht vor, da dies die Dreiteilung von 120 Grad erfordert
    o Die Konstruktion regulärer Vielecke für N = 3, 4 ist möglich, da man mit Zirkel und Lineal Winkel von 60° bzw. 90° konstruieren kann
    o Man kann auch einen beliebig vorgegebenen Winkel immer halbieren
    o Somit sieht man leicht, dass es unendlich viele konstruierbare N-Ecke gibt, nämlich z.B. alle für N = 2k * 3 (also von Dreieck ausgehend)
  • Exkurs: Mohr-Mascheroni
    o Satz von Mohr-Mascheroni (1672/1797): Jede euklidische Konstruktion, die sich mit Lineal und Zirkel ausführen lässt, lässt sich auch mit Zirkel allein ausführen
    o Beispiel: Konstruktion des Mittelpunkts M in einer gegebenen Strecke AB (allgemeiner Teilung einer Strecke AB in einem gegebenen ganzzahligen Verhältnis
  • Proportionenlehre
    o Die allgemeine Proportionenlehre in EE Buch V wird wenigstens zum größten Teil dem Vorgänger Euklids Eudoxos von Knidos zugeschrieben
    o Die Bedeutung der Proportionentheorie bestand darin, dass man mit ihr Proportionen behandeln konnte, ohne die darin enthaltenen Verhältnisse explizit berechnen zu müssen
    o Damit konnte man Eigenschaften von Figuren etc. analysieren, egal ob es sich um kommensurable oder nicht kommensurable Größen handelte
  • • Eudoxos von Knidos (408-355)
    o war ein führender Mathematiker zur Zeit Platons
    o Die Exhaustionsmethode, die sich in EE Buch XII findet, wird ihm zugeschrieben.
    o Seine allgemeine Proportionenlehre setzte sich mit den Elementen und den Werken von Archimedes in der griechischen Geometrie durch
    o Die klassische Proportionenlehre beherrscht auch noch die Schriften von Mathematikern und Physikern bis in die frühe Neuzeit (z.B. Galilei)
  • Begriff von homogenen Größen
    o EE 5. Def.3: Verhältnis ist das gewisse Verhalten zweier gleichartiger Größen der Abmessung nach
    o EE 5. Def.4: Dass sie ein Verhältnis zueinander haben, sagt man von Größen, die vervielfältigt einander übertreffen können
    o Zwei Grössen a und b haben also nur dann ein Verhältnis, wenn sie vergleichbar sind, d.h. folgende Bedingungen erfüllen:
    ▪ entweder a > b oder a = b oder a < b
    ▪ falls a < b ist, dann gibt es ein Vielfaches von a, also ein n(a) mit n(a) > b (archimedisches Axiom)
  • • Grundlegende Definition der Eudoxischen Proportionenlehre:
    EE V.5: Man sagt, dass Größen in demselben Verhältnis stehen, die erste zur zweiten wie die dritte zur vierten, wenn bei beliebiger Vervielfältigung die Gleichvielfachen der ersten und dritten den Gleichvielfachen der zweiten und vierten gegenüber, paarweise entsprechend genommen, entweder zugleich grösser oder zugleich gleich oder zugleich kleiner sind
  • • Proportionenlehre algebraisch
    Sei a : b = c : d und b : e = d : f gegeben, dann gilt auch:
    o alternando/permutando: a : c = b : d
    o componendo: (a + b) : b = (c + d) : d
    o dividendo/separando: (a - b) : b = (c - d) : d
    o convertendo: a : (a - b) = c : (c - d)
    o ex aequali: a : e = c : f
  • Das archimedische Axiom und der gehörnte Winkel
    o Das archimedische Axiom schließt die Möglichkeit infinitesimaler Größen aus
    o Der Winkel zwischen einem Kreisbogen und einer ihn tangierenden Gerade wurde gehörnter Winkel genannt
    o Nach EE III.16 gilt, dass es unmöglich ist, eine zweite Gerade zu finden, welche durch den Berührpunkt läuft, ohne den Kreisbogen in einem zweiten Punkt zu treffen
    o Damit ist klar, dass ein gehörnter Winkel unendlich klein im Vergleich mit jedem geradlinigen Winkel ist, so dass kein Verhältnis zwischen ihnen besteht
  • Euklid: Was ist eine Zahl?
    o Am Anfang der zahlentheoretischen Bücher (EE.VII-IX) stehen 22 Definitionen
    o Die ersten beiden unterscheiden zwischen der Einheit und einer Zahl
    ▪ Def. EE.VII.1: Einheit ist das, wonach jedes Ding eins genannt wird
    ▪ Def. EE.VII.2: Zahl ist die aus Einheiten zusammengesetzte Menge
  • • Euklid: Primzahlen und zueinander prime Zahlen
    o Def. EE.VII.11: Eine Zahl heißt prim, wenn sie nur durch die Einheit gemessen wird
    o Def. EE.VII.12: Zahlen, die nur die Einheit als gemeinsames Maß besitzen, heißen gegeneinander prim
  • Bestimmung des ggT
    o Das Buch VII beginnt mit einem Satz und einer Aufgabe:
    o Prop. EE.VII.1: “Nimmt man bei Vorliegen zweier ungleicher Zahlen abwechselnd immer die kleinere von der größeren weg, so müssen, wenn niemals ein Rest die vorangehende Zahl genau misst, bis die Einheit übrigbleibt, die ursprünglichen Zahlen gegeneinander prim sein“ (Wechselwegnahme)
    o Aufg. EE.VII.2: “Zu zwei gegebenen Zahlen, die nicht prim gegeneinander sind, ihr größtes gemeinsames Maß zu finden.”
    o In beiden Fällen wird der “Euklidische Algorithmus” verwendet